42 Kilometer sind nur der Anfang

42 Kilometer sind nur der Anfang

TEAM HAMBURG Athlet Haftom Welday ist beim Haspa Marathon in Hamburg Achter geworden. Die Olympia-Norm hat der Neu-Hamburger damit knapp verpasst, davon lässt sich der Läufer, der eine unglaubliche Geschichte hinter sich hat, aber nicht aufhalten.

Als Haftom Welday Ende April beim Haspa Marathon in Hamburg nach einer halben Stunde die St. Pauli Hafenstraße entlangläuft, jubeln dem TEAM HAMBURG Athleten tausende Zuschauer zu. In seinem blauen Trikot, den Neon-Orangenen Schuhen und der Startnummer Zwölf läuft Welday zu diesem Zeitpunkt in der Spitzengruppe. Am Streckenrand rufen Fans seinen Namen, am Horizont glitzert die Fassade der Elbphilharmonie in der Sonne. Welday, der kurz vorm Startschuss vom Moderator im Startbereich als Lokalmatador angesagt wurde, wird immer wieder mit Anfeuerungsrufen motiviert. „Man nimmt die Energie mit auf die Strecke. Das gibt einem neue Kraft“, schwärmt der 33-Jährige nach dem Rennen.

Dass Welday eines Tages Marathonläufer sein wird, das hätte vor wenigen Jahren noch niemand geglaubt. Als Flüchtling nach Deutschland gekommen, hatte er mit Laufen nichts am Hut. Nicht der Sport, sondern die Suche nach Sicherheit und Frieden hat ihn in ein neues Leben geführt. Nach einer lebensgefährlichen Reise fand er in Deutschland nicht nur eine neue Heimat, sondern mit dem Marathonlauf auch eine neue Leidenschaft. Eine Fügung des Schicksals, mit der nicht einmal Welday selbst gerechnet hätte: „Ich kam nach Europa, um ein sicheres Leben zu führen, aber nicht um mit dem Laufen Karriere zu machen. Deswegen ist es auch so unbeschreiblich und schwer zu erklären, wie unglaublich das für mich ist.“ Dabei könnte wohl kein Sport besser zu Welday passen als der Marathonlauf. Ein Sport der Kämpfer, derer, die sich durchbeißen und weitermachen, auch wenn sie ihr vermeintliches Limit schon längst überschritten haben.

2014 entschließt sich Welday seine Heimat Tigray, im Norden von Äthiopien, zu verlassen. Der Eritreisch-Äthiopische Krieg war offiziell zwar bereits seit mehr als zehn Jahren vorbei, einen Friedensvertrag gab es aber nicht und so kam es im Grenzgebiet immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Die Zivilbevölkerung in Tigray war ständiger Gefahr ausgesetzt. Bombardierungen, bewaffnete Zusammenstöße aber auch Nahrungs- und Wassermangel, Vertreibungen und sogar Folter bedrohten ihr Leben.

So ist es wenig verwunderlich, dass dem damals 24-Jährigen die Entscheidung zu Gehen nicht schwerfällt: „Ich habe mich so schnell wie möglich auf den Weg gemacht“, so Welday. Seiner Familie habe er erst kurz bevor es losging Bescheid gesagt, sie hätten sich zu große Sorgen gemacht. Doch er sei fest entschlossen gewesen, sein Glück in Europa zu suchen, erzählt Welday: „Ich war bereit dafür, in der Sahara oder im Mittelmeer zu sterben.“

In seiner Heimatstadt in Äthiopien hat der Marathonläufer im kleinen Laden seiner Mutter gearbeitet. Nebenbei hat er sich mit seinem Motorrad als Taxi-Fahrer über Wasser gehalten und in einem Café in der Nähe ausgeholfen. Mit Laufen hatte Welday damals noch nichts zu tun. „Ich habe es immer gehasst, zu laufen“, erinnert er sich. Nicht einmal bei den Olympischen Spielen habe er die Lauf-Wettbewerbe verfolgt und das, obwohl Äthiopien zu den führenden Ländern im Marathon-Lauf gehört, bei den Olympischen Spielen regelmäßig Medaillen absahnt. Stattdessen habe er lieber Fußball geguckt. In der Bundesliga habe er dem BVB die Daumen gedrückt. Als die Dortmunder 2011 und 2012 Meister wurden habe er vorm Fernseher mitgefiebert, erzählt Welday mit einem großen Grinsen.

Aus dem Norden Äthiopiens geht es für Welday, gemeinsam mit knapp 200 weiteren Flüchtlingen, zunächst in den Sudan, wo er zwei Wochen verbringt. Von dort aus geht es quer durch die Sahara bis nach Tripolis in Libyen. Auf Pickups werden die Flüchtlinge in Gruppen von etwa 30 Personen durch die größte Trockenwüste der Erde gebracht, geleitet nur von Kompassen, GPS gibt es nicht. Eine Strecke, die gefährlicher wohl nicht sein könnte. Nur eine starke Erschütterung, einmal nicht richtig Festhalten, während der Pickup schnellstmöglich durch den Sand rast, und man ist alleine in der Wüste gestrandet.

„Das war die schlimmste Zeit meines Lebens“, beschreibt Welday die Durchquerung der Sahara. Wasser gibt es für die Flüchtlinge nur aus alten ungewaschenen Benzinkanistern, ungenießbar und brennend beim Trinken, aber alles, was ihnen auf den Pickups übrigbleibt. In einem Holzboot, unmotorisiert dafür bis zum Rand voll mit über 300 weiteren Flüchtlingen, gelingt Welday von Tripolis aus die Überfahrt nach Sizilien. Eine Schifffahrt die etwa 36 Stunden dauert und die die Gruppe nur mit großem Glück übersteht.

Über Norditalien und die Schweiz führt Welday sein Weg schließlich nach Deutschland. Im niedersächsischen Pattensen lebt er mehrere Jahre. Dort in Pattensen, vor den Toren Hannovers, findet Welday auch erstmals zum Laufen. An einem Sonntag im März 2015 ist Welday zu einem Kindergeburtstag bei Freunden eingeladen. Als er merkt, dass er den, nur sporadisch fahrenden, Bus verpassen würde beginnt er loszulaufen. In Jeans und untrainiert läuft er die drei Kilometer zur Bushaltestelle in unter 15 Minuten.

Als er etwas später ein 3.000 Meter Lauf im Fernsehen sieht, entschließt er sich mit dem Laufen anzufangen. „So schnell zu laufen, das schaffe ich auch“, habe er sich damals gedacht. So fängt er an, sich auf das deutsche Sportabzeichen vorzubereiten. „Ich wollte die Goldmedaille“, so Welday, dem damals nicht bewusst war, dass er für seine Leistung „nur“ einen goldenen Anstecker bekommen würde. Er habe extra Weltmeister-Brötchen gegessen erzählt Welday lachend. Am Ende sei er die 3.000 Meter in 11 Minuten und 28 Sekunden gelaufen.

Das altehrwürdige Deutsche Sportabzeichen war für Welday aber nur der Startschuss. Mit einfachsten Mitteln beginnt er in Niedersachsen mit dem Training. Er läuft mit Schuhen vom Discounter und misst seine Zeit per Handy, das er vorm Loslaufen in den eigenen Briefkasten schmeißt, um nichts mitnehmen zu müssen. Wie ein Besessener fängt Welday an zu trainieren, zwingt sich selbst, ein Jahr lang jeden Tag zu laufen. Egal ob bei Regen oder Schnee, kein einziges Mal lässt er das Laufen ausfallen.

2021 führt Welday sein Weg nach Hamburg. In seiner neuen Wahlheimat findet er nicht nur sportlich ein ideales Umfeld. Auch seine Frau Brtukan und die drei gemeinsamen Kinder Matheus, Hana und Hyab fühlen sich hier wohl. Seit 2022 hat Welday auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Seitdem darf er offiziell für Deutschland starten. Ob er für seine neue Heimat Deutschland oder seine alte Heimat Äthiopien antreten möchte, darüber habe er nicht lang nachdenken müssen: „Ich habe hier angefangen zu laufen, ich lebe hier, da möchte ich für kein anderes Land starten“, so Welday.

In Hamburg hat er die Unterstützung gefunden, die es braucht, um seinen Sport professionell betreiben zu können. „Wenn ich gesund und fit bin, kommt die Leistung fast von selbst, weil ich nicht allein bin“, so Welday. Hauptsponsor „LetMeShip“ hat ihn als Mitarbeiter angestellt, ermöglicht ihm so, sich auf seinen Sport zu konzentrieren. Auch die Förderung im TEAM HAMBURG bedeutet ihm viel: „Ich bin sehr dankbar, dass ich so gefördert werde. Jede Unterstützung hilft mir, noch mehr Leistung aus mir rauszuholen.“

Zur Vorbereitung auf den Haspa Marathon in Hamburg, erst Weldays dritter Marathon überhaupt und der erste in der neuen Wahlheimat, ist Welday nach Äthiopien gereist. Dort im Hochland von Abessinien trainieren einige der besten Marathonläufer der Welt. Unter ihnen ist auch Lauflegende Kenenisa Bekele. Der 41-jährige Äthiopier ist dreifacher Olympiasieger und fünffacher Weltmeister.

Als Bekele 2019 in Berlin den Marathon gewann, war Welday als Zuschauer an der Strecke. Er war nach Berlin gefahren, um den Läufer, der für ihn auch ein Vorbild ist, zu treffen. Welday ergatterte damals ein Selfie mit Bekele, wenige Jahre später haben beide zusammen in den Bergen Äthiopiens trainiert.

Als Welday, wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Äthiopien, beim Haspa Marathon über den rotfarbenen Teppich durchs Ziel läuft, sackt er wenige Meter hinter der Ziellinie zusammen. Vor dem Wettkampf hatte er sich vorgenommen alles zu geben. Etwas mehr als zwei Stunden später hat er sich völlig verausgabt, ist bis an seine Grenze gegangen und trotzdem glücklich im Ziel. Dass Welday die Olympianorm für die Olympischen Spiele in Paris dabei nur knapp um 1:30 Minute verpasst hat, ist keine Niederlage für den 33-Jährigen. Er hatte sich vorgenommen, seine Grenzen auszutesten und bis ans Limit zu gehen.

Das große Ziel bleiben für Welday aber die Olympischen Spiele. Seine Unterstützer hat Welday mit seiner Fokussiertheit und seinem Willen schnell überzeigt. Und auch er selbst glaubt fest an den Traum von den Olympischen Spielen: „Ich habe keinen Zweifel, dass ich es schaffen kann“, schließlich sind die 42 Kilometer beim Haspa Marathon nur der Anfang gewesen.